Test: MV Agusta Turismo Veloce 800 Lusso SCS
Fahrendes Kunstwerk
MV Agusta? Das sind doch diese Rennpfeile für all‘ diejenigen, denen eine Ducati zu alltäglich ist? Nicht ganz, denn seit 2015 schon bauen die Italiener ein Adventure-Bike, welches mit vollem Namen Turismo Veloce 800 Lusso SCS heißt. Sie sieht nicht nur betörend aus, sondern hinter dem Kürzel SCS verbirgt sich eine technische Besonderheit.
MV Agusta ist wieder da
Irgendwie meint es die Welt nicht sonderlich gut mit den kleinen, unabhängigen Motorradschmieden. Wenn man nicht wie Ducati mit Audi einen starken – und vor allem finanzkräftigen – Partner gefunden hat, dann sieht es schnell düster aus. So ging es auch MV Agusta, doch kürzlich ist ein Investor eingestiegen. So wird man in Zukunft dank eines vergrößerten Händlernetzes wieder mehr dieser Exoten sehen können. Denn eines ist klar: Alltägliche Motorräder bauen die Italiener nicht.
Aber schöne. Tatsächlich entdeckt der geneigte Betrachter an der MV Agusta Turismo Veloce immer wieder neue Details, die alle eines gemeinsam haben: Jede Schraube, jede Rundung oder Kante ist mit einem feinen Sinn für Details entworfen wurden. Die Turismo ist mehr noch als andere Motorräder in Gesamtkunstwerk. Allein der Auspuff ist so schön, dass man MV Agustas öfter sehen und hören wollen würde.
Wie das so ist mit Kunstwerken, muss man sie sich leisten können. Im Falle der Turismo Veloce 800 Lusso SCS muss das Sparschwein ein großes gewesen sein, denn für den Erwerb dieses Adventure-Bikes sind 19.490 Euro, nicht Lira, notwendig. Das ist heftig im Vergleich, denn leistungsmäßig (110 PS) oder vom Hubraum her spielt die Turismo in der Liga einer Yamaha Tracer 900, die für 12.400 Euro beim Händler steht.
Exklusiver Preis
Allerdings gibt es die MV Agusta rund 4.000 Euro günstiger, und nun kommen wir zum Punkt. Wer auf die Kürzel Lusso und SCS verzichtet, bekommt das Basismodell für 15.890 Euro. Dafür fehlen dem Käufer das semiaktive Fahrwerk sowie das Smart Clutch System, welches die eigentliche Besonderheit der Version SCS darstellt. Kurz gesagt ist dies eine Art Halbautomatik, bei der man auf den (trotzdem vorhandenen) Kupplungshebel verzichten kann. Per Blipper wird der passende Gang eingelegt. Das Anfahren funktioniert wie bei einem Roller. Die Fliehkraftkupplung macht das Stehen des Motorrades mit eingelegtem ersten Gang ohne das Ziehen des Kupplungshebels möglich.
Entworfen hat dieses komfortable System der amerikanische Zulieferer Rekluse, der das „Radius CX“ genannte System in die MV Agusta integriert. Rekluse bietet normalerweise eine Umrüstung für Sportenduros auf eine Fliehkraftkupplung an.
Da dieses System im Stand nicht einkuppelt, gibt es neben dem herkömmlichen Bremshebel der Turismo noch einen weiteren, der sich als Festellbremse herausstellt. Bei Parken auf abschüssigem Grund ist das eine technische Notwendigkeit.
Dann mal los.
Hervorragende Fahrleistungen
MV Agusta wäre nicht die Firma der Details, wenn man sich für das SCS, also Smart Clutch System, nicht noch ein Goodie hätte einfallen lassen. So gibt es denn auf der rechten Seite der Maschine ein Schauglas, hinter dem sich die Kupplungsscheibe dreht. Mit steigender Drehzahl immer schneller natürlich, nett anzusehen ist es schon im Stand.
Tatsächlich ist es zuerst ein ungewohntes Gefühl, mit eingelegtem Gand die Kupplung nicht mehr ziehen zu müssen. Eine kleine Warnleuchte informiert den Piloten darüber, dass ein Gang eingelegt ist. Wer nur mal kurz dem exzellenten Klang des Motors lauschen wollte und im Stand Gas gibt, schießt nach vorne.
Das ist uns nicht passiert, aber jeder Testfahrer des Motorradtest.de-Teams fährt privat auch einen Roller, insofern war das Gefühl bekannt. Der komplette Kraftschluss soll erst bei 2.800 Touren gegeben sein, bis dahin schleift die Kupplung etwas. Das ist einerseits komfortabel, das Anfahren geschieht sehr automatisch. Hat dieser späte Kraftschluss Auswirkungen auf die Fahrleistungen? Erstaunlicherweise nicht. Die Turismo brüllt sich mit herrlichem Dreizylinderklang in 3,1 Sekunden auf 100, was einem Superbike nicht schlecht anstehen würde.
Trotzdem ist das SCS nicht frei von Macken. Das Schaltgefühl ist etwas knorpelig. Das klare Einrasten eines Ganges fehlt. Zudem ist der Leerlauf schwer zu finden, vor allem, wenn man mal in einem höheren Gang zum Stehen kommt. Dass man ihn eigentlich gar nicht mehr braucht, ist allerdings auch richtig.
Da wir schon am Meckern sind: Der Autor dieser Zeilen hat sich früher mokiert, wenn bei derart teuren Mopeds der Hauptständer fehlte. Mittlerweile habe ich meine Meinung um 180 Grad geändert. Ein Hauptständer in dieser Form hat für die Turismo gleich zwei Nachteile: Erstens ist dieser Ständer wie die meisten im Markt dank der Querstrebe wie ein Haken geformt. Sollte sich dieser im Gelände – es ist ja offiziell ein Adventure-Bike - an einer Kante einklinken geht’s ungebremst über den Lenker nach vorn.
Zweitens: Engagiert gefahren, ist die Turismo sauschnell. Und hochbegabt in Kurven, wo jedoch der Hauptständer und nicht die Fußrasten zuerst aufsetzt. Und wieder braucht es nur eine Kante im Asphalt, und das Bike hebelt sich mitsamt Besatzung aus.
Das war es aber an Kritikpunkten, denn die enorm handliche Maschine ist ein Quell reiner Freude. Selbst in Fahrmodus Sport ist der Komfort nicht schlecht, in den komfortableren Einstellungen verliert sie ihre Kurvenwilligkeit nicht. Die aufrechte Sitzposition gibt jederzeit das Gefühl, die Fuhre sicher im Griff zu haben. Der Windschutz ist dank der einstellbaren, großen Scheibe ebenfalls ohne Tadel.
Eine wie keine
Was bleibt am Ende übrig? Nun, wer dieses Motorrad kauft und fährt, wird trotz verbessertem Handlernetz einen echten Exoten besitzen. Auf einem Motorradtreffen eine weitere Turismo SCS sehen? Eher nicht.
Guter Geschmack macht einsam, könnte man formulieren, aber es geht noch besser: Man muss für diese Wahl nicht leiden, im Alltag gibt es keine Abstriche, an der Verarbeitungsqualität trotz Kleinserie ebenfalls nicht. Und das SCS? Nun, darauf (und auf den heftigen Aufpreis) lässt sich verzichten. Der wunderschöne Auspuff bleibt erhalten. :)
Das Testbike wurde uns von Bergmann und Söhne in Hamburg zur Verfügung gestellt.
Preis / Verfügbarkeit / Farben / Baujahre
- Preis: ab15.890€
- Gebraucht (1 Jahre alt): 14.000€
- Baujahre: seit 2015
- Verfügbarkeit: mäßig
- Farben: rot, weiß, mattgrau